Weiße Biotechnologie
Auf der Fährte der Evolution
Dr. Rolf Froböse
Grün, weiß, rot – die Farben der italienischen Flagge sind jedem bestens vertraut. Auch in der modernen Biotechnologie führt an dem “Farben-Trio” kein Weg mehr vorbei. Den höchsten Bekanntheitsgrad besitzt die “rote Biotechnologie”. Sie nutzt biotechnologische Methoden für die Herstellung von Arzneimitteln. Ähnliches gilt für die “grüne Biotechnologie” – ein Synonym für ihren Einsatz in der Landwirtschaft. Weitaus weniger bekannt ist jedoch die dritte und zugleich jüngste Säule dieser Technologie, die “weiße Biotechnologie”. Dahinter verbirgt sich die Anwendung biotechnischer Verfahren in diversen industriellen Prozessen. Das Ziel: Einfachere Reaktionswege, weniger Rohstoffe, weniger Schadstoffe, geringere Kosten und weniger Energie.
Im Prinzip kommt die “weiße Biotechnologie” einer “Industriespionage” bei der Natur gleich. Denn letztere hat im Laufe der Evolution Syntheseprozesse entwickelt, deren Selektivität und Effizienz von der Technik einfach nicht zu überbieten sind.
Die weiße Biotechnologie wird immer wichtiger für die chemische Industrie, die insbesondere bei „Spezialitäten“ die Syntheseleistung der Natur mehr und mehr schätzt. Bis 2010 soll sich der Anteil von Chemieprodukten, die mittels biotechnischer Verfahren hergestellt werden, auf zehn bis 20 Prozent erhöhen, in der Feinchemie sogar auf bis zu 60 Prozent. Das prognostiziert das Beratungsunternehmen McKinsey & Co., wobei der entsprechende Vergleichswert heute nur etwa fünf Prozent beträgt. Die weltweiten Umsätze der Branche mit der weißen Biotechnologie dürften zu diesem Zeitpunkt rund 300 Milliarden Euro erreichen.
Für den rasanten Umbau der Ausgangsbasis – weg vom Öl, hin zu nachwachsenden Rohstoffen – gibt es gute Gründe: Zum einen macht der steigende Ölpreis inzwischen viele alternative Verfahren wirtschaftlich, die bisher ökonomisch im Abseits standen. Zum anderen bringt die „Chemie vom Acker“ eine Reihe von Vorteilen mit sich. „Viele Reaktionswege der Natur sind in jeder Beziehung – Energiebedarf, Ausbeute oder Vermeidung von Nebenprodukten – vorbildlich“, bestätigt Dr. Alfred Oberholz, Stellvertretender Vorstandsvorsitzender und verantwortlich für Forschung und Entwicklung bei der Degussa AG (Düsseldorf). Das weltweit führende Unternehmen der Spezialchemie ist hier besonders aktiv im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe. McKinsey beziffert die Wertschöpfung der weißen Biotechnologie auf die Wirtschaft zwischen elf und 22 Milliarden Euro pro Jahr, wobei etwa die Hälfte davon auf Kosteneinsparungen bei den Rohstoffen, den Prozessen und den Investitionen entfallen. Die andere Hälfte wird durch neue Produkte und zusätzliche Wertschöpfungsstufen generiert.
Auf dem Asia Biotech Forum 2005 in Kuala Lumpur (Malaysia) wurden Grundstoffe der Petrochemie wie Ethylen, Propylen oder Isopropanol und Caprolactam erneuerbaren „Newcomern“ wie Cellulose und Zucker, Bioethanol und Glutaminsäure gegenübergestellt. Das für viele überraschende Ergebnis: Sowohl bei der jährlichen Erzeugung als auch bei den Preisen pro Tonne sind zumindest die Größenordnungen durchaus vergleichbar. So werden von Ethylen, dem weltweit wichtigsten Kunststoff-Monomer, derzeit jährlich 85 Millionen Tonnen jährlich für 400 Euro pro Tonne hergestellt. Das wichtigste Naturprodukt, Cellulose, wird dagegen schon etwa in der vierfachen Menge gehandelt und liegt preislich bei 500 Euro pro Tonne. Das Produktionsvolumen von Caprolactam, einem wichtigen Vorprodukt für den technischen Kunststoff Polyamid 6, beläuft sich auf etwa drei Millionen Tonnen p.a. bei einem Preis von 2.000 Euro pro Tonne. Dieselbe Summe ist für eine Tonne Glutaminsäure aufzubringen, die aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wird und als Geschmacksverstärker in Lebensmitteln zum Einsatz kommt. Fossile Quellen stellen zwar nach wie vor den überwiegenden Anteil an Rohstoffen für die chemische Industrie. Produkte aus nachwachsender Erzeugung werden heute allerdings oft unterschätzt. Sie sind bereits in erheblichen Mengen am Markt – mit weiter steigender Tendenz.
„Bislang wurden biotechnologische Verfahren nur dann eingesetzt, wenn keine chemische Möglichkeit zur Verfügung stand. So gab es bei funktionalen Proteinen, also bei Enzymen oder enantiomerreinen Aminosäuren, keine wirtschaftliche Alternative. Insgesamt ändert sich das jetzt dramatisch, das heißt, Chemo- und Biokonversion stehen immer mehr gleichberechtigt nebeneinander“, erklärt Dr. Manfred Kircher, der für Creavis Technologies & Innovation auf dem Gebiet Business Venture tätig ist. In der Creavis bündelt Degussa den Aufbau von neuen strategischen Geschäftsfeldern. Das amerikanische Department of Energy (DOE) hat in einer Studie 60 Metabolite von Mikroorganismen untersucht und zwölf davon identifiziert, die als Startpunkt für die meisten Verbindungen dienen könnten, die der heutigen Chemieproduktion entsprechen. Das bedeutet nicht, dass das Ölzeitalter in der Branche abrupt endet, sondern sich langsam, aber sicher ein neues Gleichgewicht ausbildet. Im Dezember 2005 ließ sich erstmals ein höherer Profit mit Ethanol aus Zuckerrohr als mit Zucker auf derselben Basis erzielen. In der Verwendung Ethanol mit 10,20 Dollar pro Tonne Zuckerrohr war der Gewinn 70 Cents höher als beim Zucker. Der Bioalkohol ist zum einen ein gefragter Treibstoffersatz, zum anderen aber zunehmend auch eine Rohstoffquelle für die Chemie. Auch hier war der Ölpreis von über 60 Dollar pro Barrel Treiber dieser Entwicklung.
Bioalkohol ist auch deshalb ein Hoffnungsträger, weil er als umweltverträgliche Energiequelle künftig zu einem vertretbaren Preis und in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen könnte. „Schuld“ daran sind unter anderem Prof. Eckhard Boles und sein Team vom Institut für Molekulare Biowissenschaften der Universität Frankfurt am Main. Den Genetikexperten ist es gelungen, Hefepilze der Gattung Saccharomyces cerevisiae durch den Einbau neuen Erbmaterials dazu zu bringen, bisher ungenutzte Biomasse zu vergären. „Mit unseren Hefen lassen sich nun auch Stroh, Hölzer und Pflanzenreste verwerten. Bisher entfielen 50 bis 60 Prozent der Kosten auf die teuren agrarischen Grundstoffe wie Mais, Zuckerrüben und -rohr“, so Boles. Herkömmliche Hefen wandeln nur so genannte Hexosen um, also Zucker mit sechs Kohlenstoffatomen. Die neuartigen Hefen enthalten zusätzliche Enzyme, die auch Pentosezucker mit nur fünf C-Atomen „knacken“.
Hilfe kommt auch aus der Chemie selbst. So besteht eine Forschungskooperation zwischen der BASF (Ludwigshafen) und der University of Alabama (UoA), USA, die sich auf die Verarbeitung von Cellulose mit Hilfe ionischer Flüssigkeiten bezieht. Cellulose ist mit einem Vorkommen von etwa 700 Milliarden Tonnen die mengenmäßig größte natürliche organische Chemikalie auf der Erde und damit als nachwachsender Rohstoff von großer Bedeutung. Selbst von den 40 Milliarden Tonnen, die Jahr für Jahr von Mutter Natur nachgebildet werden, gelangen nur 0,1 Milliarden Tonnen als Rohstoff in eine weitere Veredelung. Bisher fehlt es an einem geeigneten Lösemittel der Cellulose für chemische Prozesse. Durch den Einsatz ionischer Flüssigkeiten lassen sich nun erstmals echte Lösungen von Cellulose in technisch nutzbaren Konzentrationen bereitstellen. Die neue Technologie eröffnet daher für die Verarbeitung von Cellulose große Potenziale – gerade weil das neue Verfahren die Umwelt spürbar entlastet.
So müssen derzeit bei der Herstellung zum Beispiel von Cellulosefasern aus so genanntem Chemie-Zellstoff noch verschiedene Hilfschemikalien in großen Mengen eingesetzt und anschließend entsorgt werden. Ingesamt werden für diese Anwendung heute jährlich etwa 600.000 Tonnen Schwefelkohlenstoff (CS2) verbraucht. Pro Tonne Cellulosefasern fallen mehr als zwei Tonnen Abfallstoffe an. Zusätzlich müssen verfahrensbedingt erhebliche Volumen an Abwassern behandelt werden. Durch den Einsatz ionischer Flüssigkeiten lassen sich diese Prozesse maßgeblich vereinfachen, da sie als Lösemittel verwendet und fast vollständig recycliert werden. Dies kann die Einsatzmenge von Hilfschemikalien deutlich verringern. „Durch die Kombination unseres Know-hows bei innovativen ionischen Flüssigkeiten mit der spezifischen Expertise der University of Alabama auf dem Gebiet der Celluloseprodukte erschließen wir ein faszinierendes Feld“, so BASF-Vorstandsmitglied und Sprecher der Forschung, Dr. Stefan Marcinowski.
Wursthüllen, essbares Geschirr, Plastiktüten oder Innenverkleidungen von Autos – derartige Produkte sind bereits Teil des alltäglichen Lebens und werden aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt. Stärke und Zucker, Cellulose und pflanzliche Öle treten inzwischen gegen klassische Kunststoffe an. Die wurden insbesondere zwischen 1920 und 1960 entwickelt, „viele Experten erwarten jetzt eine ähnliche Welle von den erneuerbaren Rohstoffen und der weißen Biotechnologie, durch die neue Moleküle in den Fokus des Interesses gelangen“, erläutert Kircher. Ein Kandidat in diesem Feld ist die Itaconsäure, die durch Biokonversion mit Hilfe von Pilzen hergestellt wird und bereits bei der Herstellung von Farben und Lacken, Verdickungsmitteln für Fette und Pharmazeutika, als Herbizid und biologisch abbaubares Polymer Verwendung findet. Das kompakte Molekül könnte zur Synthese für ganz unterschiedliche kettenförmige ebenso wie ringförmige Verbindungen dienen und damit vielfältige Reaktionswege eröffnen.
Degussa hat schon vor Jahren u.a. bei Aminosäuren als Futtermittelzusatz oder für die Produktion von Pharmazeutika auf Biotechnologie gesetzt. „Die Frage innerhalb der Chemie lautet nicht länger, ob in Biotechnologie investiert wird, sondern allenfalls noch wann“, betont Dr. Thomas Haas, Forschungsleiter des neuen Science-to-Business-Centers Bio der Degussa in Marl. In hochmodernen Labors und Technika entwickeln 60 Wissenschaftler des Unternehmens gemeinsam mit Partnern aus Hochschulen und Industrie neue biotechnologische Produkte und Prozesse auf Basis natürlicher Rohstoffe. Das Konzept beruht auf der Integration aller Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten entlang der Wertschöpfungskette unter einem Dach – „von der Grundlagenforschung über die Produktentwicklung bis hin zur Marktbewährung“. Zu den ersten Arbeitsgebieten gehören neuartige Drug-Delivery-Systemen zum effektiven Wirkstofftransport von Arzneimitteln, neue Materialien mit zusätzlichen Funktionen sowie Kosmetikinhaltsstoffe.
Derzeit sind weltweit 1.400 Unternehmen in der Biotechnologie tätig, bislang entfallen davon 72 Prozent auf die rote, 24 Prozent auf die grüne und nur vier Prozent auf die weißen Bereiche. Bei den Investitionen sieht es ähnlich aus: Der überwiegende Teil (90 Prozent) geht in Richtung Pharmazie, sieben Prozent in den Pflanzen- und drei Prozent in den Chemiebereich. Diese Verteilung ist der heutige Status Quo, der sich aber rasch zugunsten der weißen Biotechnologie verschieben wird. Das lässt sich auch am Börsen-Index Industrial Biotech ablesen, bei dem weiß gegen rot klar aufholt. Auf jeden Fall wächst schon jetzt das eingesetzte Venture-Kapital: Nach einer Übersicht von Steven Burill, dem führenden Experten für Biotechnologie in den USA, ist es 2004 im Vergleich zum Vorjahr von 2,8 auf 3,7 Milliarden US-Dollar allein für die Vereinigten Staaten gestiegen.
Genau hier aber hapert es in Europa: „Entscheidend ist die Ansiedlung von jungen Firmen mit guten Ideen, die aber auch die Chance haben, Geld zu verdienen“, befindet Fachmann Kircher. „Die Großindustrie braucht ein solches Umfeld.“ Umso wichtiger, dass Degussa mit dem Science-to-Business-Centers Bio einen neuen Weg geht, der gerade auch diesem Zweck dient. Nur so wird es gelingen, die bislang sehr gute Stellung der deutschen Chemie weiter zu entwickeln. Die weiße Biotechnologie, richtig eingesetzt, wird hierbei einen entscheidenden Anteil haben.
Rolf Froböse
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